Pro Juventute Stress-Studie

Fast ein Drittel der Kinder und Jugendlichen leidet unter Stress

Der Alltag von Erwach­se­nen ist häufig geprägt von hohen Erwar­tun­gen und Leis­tungs­druck. Doch auch Kinder und Jugend­li­che sehen sich vermehrt Stress ausge­setzt. Dies belegt eine breit ange­legte Studie von Pro Juven­tute. Die Stif­tung hat die Stress­be­las­tung unter Schü­le­rin­nen und Schü­lern in der Schweiz unter­sucht und dabei Unter­schiede bezüg­lich Alter, Geschlecht und fami­liä­rer Situa­tion fest­ge­stellt.

In ihrer Stress-Studie unter­sucht Pro Juven­tute das Stress­ni­veau von Kindern und Jugend­li­chen aus ihrer eigenen Sicht sowie aus der Perspek­tive der Eltern und Lehr­per­so­nen. 1056 Kinder und Jugend­li­che im Alter von 9 bis 15 Jahren haben schweiz­weit an der Befra­gung teil­ge­nom­men. Die Befra­gung fand an 51 Schulen in der ganzen Schweiz statt und lief zwischen Oktober 2019 und Februar 2020, also noch vor dem pande­mie­be­ding­ten Lock­down. Von allen Schulen haben auch die Lehr­per­so­nen an der Studie teil­ge­nom­men. Für sie gab es einen eigenen Frage­bo­gen. Die Eltern von knapp einem Drittel der Schü­le­rin­nen und Schüler (total 343 Eltern) haben die Online-Umfrage ausge­füllt.

Im folgen­den Artikel wird auf die Situa­tion in der Familie fokus­siert; alle Resul­tate zum Schul­um­feld finden Sie im Studi­en­be­richt.

Stress­be­las­tung steigt mit zuneh­men­dem Alter

Basie­rend auf 22 Dimen­sio­nen hat das Studi­en­team ein „Gesamt­syn­drom Stress“ entwi­ckelt, welches das zu erklä­rende Phäno­men darstellt. Das Gesamt­syn­drom Stress zeich­net sich u. a.ab durch die Über­for­de­rung durch Eltern und Lehr­per­so­nen, durch Stress­ge­fühle, körper­li­che und emotio­nale Belas­tun­gen, Zeit­man­gel sowie Gefühle der Erschöp­fung und des Ausge­brannt­seins. Zudem zeigt es auf, wie belas­tet sich die Schü­le­rin­nen und Schüler durch Stress fühlen.

Insge­samt weisen 32,6 Prozent der befrag­ten Kinder und Jugend­li­chen erhöhte Werte des Gesamt­syn­droms Stress auf. Ein Drittel von ihnen fühlt sich somit gestresst, wobei der Stress mit dem Alter zunimmt. Bei den über 14-Jähri­gen steigt der Anteil der über­durch­schnitt­lich Gestress­ten auf 45 Prozent. Die Schü­le­rin­nen fühlen sich gestress­ter als die Schüler, was sich insbe­son­dere mit stei­gen­dem Alter zeigt: 59 Prozent der über 14-jähri­gen jungen Frauen weisen ein hohes Stress­le­vel aus gegen­über 34 Prozent der jungen Männer. Die jungen Frauen nehmen den Stress stärker als Belas­tung wahr, weisen deut­lich häufi­ger einen einge­schränk­ten Selbst­wert auf, fühlen sich häufi­ger als Versa­ge­rin­nen und berich­ten von einem gerin­ge­ren Wohl­be­fin­den.

Die Kinder und Jugend­li­chen mit einem hohen Ausmass an Stress fühlen sich im Durch­schnitt durch ihre Eltern und Lehr­per­so­nen über­for­dert, sind oft erschöpft, fühlen sich häufig gestresst oder emotio­nal belas­tet und leiden unter soma­ti­schen Sympto­men wie Bauch- und Kopf­schmer­zen. Weiter geben sie häufig an, unter Zeit­man­gel zu leiden. Gestresste Kinder und Jugend­li­che weisen häufi­ger eine erhöhte Ängst­lich­keit, ein gerin­ge­res allge­mei­nes Wohl­be­fin­den und ein schlech­te­res Selbst­kon­zept auf.

Zeit­man­gel verstärkt den Stress

Schü­le­rin­nen und Schüler mit hohen Stress­wer­ten leiden stärker unter Zeit­man­gel als weniger gestresste Kinder und Jugend­li­che. Zudem geben sie häufi­ger an, dass Frei­zeit­be­schäf­ti­gun­gen wie Sport oder Vereine sie stres­sen, obwohl sie solche Akti­vi­tä­ten selte­ner ausüben. Die Auswer­tung zeigt jedoch, dass die Ausübung dieser Akti­vi­tä­ten das Stress­ni­veau senkt.

Der stärkste stress­sen­kende Einfluss ist gemäss der Studie bei der verbrach­ten Zeit mit Freun­din­nen und Freun­den fest­stell­bar. Auch die verfüg­bare Zeit, um sich zu erholen, wirkt sich positiv aus. Akti­vi­tä­ten wie Haus­auf­ga­ben oder der Zeit­ver­treib mit elek­tro­ni­schen Medien hinge­gen erhöhen das Stress­ni­veau. Dasselbe gilt auch für erlebte Lange­weile. Sie stei­gert das Stress­ni­veau am stärks­ten.

Inter­esse der Eltern und Mitbe­stim­mung senken das Stress­ni­veau

Die Bezie­hung zu den Eltern hat einen Einfluss darauf, wie gestresst sich die Kinder und Jugend­li­chen fühlen. So geben 34,3 Prozent der Schü­le­rin­nen und Schüler mit hoher Stress­be­las­tung an, dass ihre Eltern sich nur in gerin­gem Ausmass für sie inter­es­sie­ren, im Gegen­satz zu 18,5 Prozent der rest­li­chen Befrag­ten. Knapp die Hälfte der Kinder mit hohem Stress­ni­veau erlebt zu Hause eine geringe Mitbe­stim­mung („Fragen dich deine Eltern nach deiner Meinung? Bestim­men deine Eltern, was du in deiner Frei­zeit machen sollst?“) gegen­über 31,3 Prozent der anderen Kinder. Je mehr die Kinder und Jugend­li­chen aus ihrer Sicht zu Hause und in der Frei­zeit­ge­stal­tung mitent­schei­den können, desto mehr redu­ziert sich ihr Stress. Eine schlechte Bezie­hung zu den Eltern erleben 12,9 Prozent der nicht bzw. durch­schnitt­lich gestress­ten Befrag­ten und 36,7 Prozent der über­durch­schnitt­lich gestress­ten Schü­le­rin­nen und Schüler. Zudem geben diese Kinder und Jugend­li­chen häufi­ger an, dass Streit mit den Eltern zu Stress führt.

Auch die Erwar­tung der Eltern an ihre Kinder kann bei letz­te­ren Stress auslö­sen. Das subjek­tive Gefühl der Kinder und Jugend­li­chen, dass ihre Eltern zu hohe Erwar­tun­gen an sie stellen und sie diese nicht erfül­len können, scheint gemäss der Studie eine gewich­tige Ursache ihrer Stress­be­las­tung zu sein. In der Auswer­tung der Eltern­be­fra­gung zeigt sich folgen­der Zusam­men­hang: Eltern, die ihr Kind als gestresst einschät­zen, geben an, dieses eher erfolgs- und aufstiegs­ori­en­tiert zu fördern und gleich­zei­tig oft das Gefühl zu haben, das Kind damit zu über­for­dern.

Eltern nehmen Stress­be­las­tung ihrer Kinder meist realis­tisch wahr

Inter­es­sant ist der Vergleich, wie die Eltern das Stress­ni­veau ihrer Kinder beur­tei­len und wie gestresst letz­tere sich selbst fühlen. Insge­samt schät­zen Eltern den Stress­le­vel ihrer Kinder gut ein. Dies trifft jedoch vor allem auf die unter­durch­schnitt­lich und durch­schnitt­lich gestress­ten Kinder und Jugend­li­chen zu. Bei den Kindern und Jugend­li­chen mit über­durch­schnitt­li­chen Stress­wer­ten unter­schät­zen die Eltern teil­weise das Ausmass: Rund 20 Prozent der Eltern nehmen den hohen Stress ihrer Kinder nicht wahr.

Ladina Gart­mann

Ladina Gartmann hat Soziologie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Sozial- und Präventivmedizin in Zürich und Kopenhagen studiert. Nach einigen Jahren in der angewandten Forschung ist sie seit 2017 als Projektleiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Kinder- und Jugendhilfe vom AJB tätig und begleitet verschiedene Forschungs- und Pilotprojekte, u.a. die Erprobung der Methode Familienrat oder die beiden Greenhouse-Saatboxen «Care 4 Young Carers» und «Rudel der Löwinnen».