Durch die Augen eines Säuglings – für Kinder und vom Kind her denken
Wahrnehmungen und Fakten verdrängen zu können, ist eine überlebenswichtige Fähigkeit. Positiv formuliert geht es darum, sich zu fokussieren und aus einer Flut von Informationen und Erfahrungen eine bedeutsame Auswahl zu treffen. Erst wenn wir gewisse Dinge systematisch, kollektiv und unhinterfragt ausblenden, begeben wir uns eventuell auf einen Holzweg. Diese Gefahr muss uns privat, beruflich und öffentlich bewusst sein, besonders wenn wir für andere Verantwortung tragen und Entscheidungen treffen.
Als Leiterin eines Instituts mit dem Auftrag, sich für gute Lebensbedingungen ganz junger Kinder und ihrer Bezugspersonen einzusetzen, treibt mich die Frage nach «blinden Flecken» in unserer konkreten Arbeit und im gesellschaftlichen Diskurs zur frühen Kindheit besonders um. Vieles wird im Namen von Kindern und zu deren Wohl behauptet und gemacht. Je weniger Kinder verbal und logisch bereits wie Erwachsene denken und argumentieren können, umso leichter – und manchmal skrupellos – geht das.
Die Geschichte des Umgangs mit Kleinstkindern ist voll von Annahmen und Praktiken, bei denen uns aus heutiger Sicht die Haare zu Berge stehen. So galten Neugeborene lange als unempfindlich gegenüber körperlichem Schmerz. Trennung und Verlust von Bezugspersonen wurden bis weit ins letzte Jahrhundert bagatellisiert, weil kleine Kinder – vermeintlich! - keine Erinnerung haben. Deshalb wurden sie etwa bei Spitalaufenthalten mit ihrer sprachlosen, emotionalen Not im Stich gelassen. Erst nach und nach hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass Kinder neben physisch hygienischen Bedingungen auch psychisch und emotional ein aufmerksames Umfeld brauchen. Manchen Eltern und Bezugspersonen dürfte das schon vorher nicht entgangen sein. Die Macht der fachlichen und öffentlichen Meinung ist jedoch nicht zu unterschätzen.
Und wo stehen wir heute, wenn es um die Jüngsten in unserer Gesellschaft geht? Die Spitze des Eisbergs von Misshandlung und Vernachlässigung haben wir recht gut im Blick. Wir erkennen auch, dass uns immer noch viel zu viele Kinder, die Schaden erleiden, unter dem Radar durchschlüpfen. Es gibt einen Diskurs über adäquates Erziehungsverhalten und elterliche Verantwortung. Die Kinder- und Familienhilfe begleitet und unterstützt mit einer differenzierten Angebotspalette Familien darin, ihre Aufgaben zu erfüllen.
Trotzdem hinterlässt der Gedanke an den Alltag von Säuglingen und Kleinstkindern oft ein mulmiges Gefühl. Der öffentliche Diskurs um Kinderbetreuung wird stark durch die Rekrutierung von Müttern für den Arbeitsmarkt und von dogmatischen Familienbildern dominiert. Eine strukturell unterstützte und individuell gestaltbare Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit für Mütter und Väter käme der Gesellschaft und vorab den Kindern zu Gute. Tatsächlich lieben und brauchen es Kinder schon ganz früh, regelmässig mit anderen Kindern und verschiedenen Erwachsenen Zeit zu verbringen. In vielen Familienkonstellationen und Wohnumfeldern ist dies heute jedoch nur eingeschränkt möglich. Aus Kindersicht sind deshalb Spielgruppen, Kitas und Orte zum Spielen wertvolle Lebenswelten. Aber: Was erlebt der neun Monate alte Fritz, wenn er in einer einzigen Woche je zwei 10-Stunden-Tage in der Kita und bei den Grosseltern sowie drei Tage mit Mutter oder Vater oder beiden Eltern verbringt, also etwa fünf verschiedene Tagesabläufe erlebt und von acht verschiedenen Personen gewickelt wird? Viel mehr hätte er von mehr aber kürzeren Kita-Tagen sowie alltäglicher entspannter Zeit zu Hause und von einem familiären Netz, das er nach und nach entdecken könnte. Das würde allerdings eine andere, tatsächlich abgestimmte Familien-, Gleichstellungs- und Arbeitsmarktpolitik bedingen.
Dr. Heidi Simoni
Psychologin und Psychotherapeutin FSP, Leiterin Marie Meierhofer Institut für das Kind