Gespräch mit einer Elternbildnerin

«Du musst keine Angst haben» – Die Rolle der Eltern, wenn Kinder sich fürchten

Wie gerne möchten wir unsere Kinder vor Gefah­ren schüt­zen und ihnen jegli­che Ängste «nehmen». Nur können wir das leider nicht immer. Eltern­bild­ne­rin Yvonne Gahler Mehta geht auf die Rolle von Eltern bei Kinder­ängs­ten ein und gibt Tipps im Umgang damit.

Haben eigent­lich alle Kinder Ängste?
Yvonne Gahler Mehta:
Ja, Ängste gehören zur Entwick­lung dazu. Dabei gibt es typi­sche Kinder­ängste, die durch­lau­fen werden; ein Klein­kind hat Angst, alleine gelas­sen zu werden und braucht immer wieder Kontakt zu seinen Bindungs­per­so­nen. Vor dem Kinder­gar­ten kommen klas­si­sche Ängste auf, vor Mons­tern, der Dunkel­heit, vor bestimm­ten Tieren etc. In der Schul­zeit gesel­len sich soziale Ängste dazu, Kinder begin­nen, sich zu verglei­chen, sorgen sich, nicht zu genügen. Das ist alles ganz normal. Oft sind die Ängste verstärkt, wenn aktuell Entwick­lungs­schritte anste­hen. Sie sollten sich aber auch immer wieder abschwä­chen oder gar verschwin­den. Nehmen die Ängste über­hand oder belas­ten sie die ganze Familie, sollte man Unter­stüt­zung anneh­men. Ein Kind kann sich dann nicht mehr unein­ge­schränkt entwi­ckeln. Doch Kinder­ängste lassen sich gut behan­deln.

Welche Rolle spielen die Eltern bei Kinder­ängs­ten?
Wie wir Eltern auf Ängste reagie­ren, hat einen grossen Einfluss auf das Kind. Es lohnt sich daher, auch bei uns selbst genau hinzu­schauen. Nicht nur im Sinne von, was sage ich meinem Kind, wenn es Angst hat? Welches Rüst­zeug gebe ich ihm mit? Sondern dass wir auch reflek­tie­ren, was es in uns selbst auslöst, welche Haltung wir haben und was wir entspre­chend vom Kind erwar­ten. Ich als Mutter merke beispiels­weise, dass es mir sehr nahe geht, wenn ich merke, dass meine Kinder Angst haben. Ich möchte, dass sie das nicht spüren müssen. Aber Angst gehört zum Leben dazu. Das merke ich ja auch bei mir. Das Gefühl, dass es im Dunkeln unan­ge­nehm ist beispiels­weise, kennen Erwach­sene auch. Wir können von Kindern nichts Gegen­tei­li­ges erwar­ten – schliess­lich haben wir bloss mehr Erfah­rung im Umgang damit.

Man kann Kindern also keine Ängste «nehmen»?
Nein, das geht nicht und es ist auch nicht unsere Aufgabe. Denn möchte ich das Kind schonen, kann es nicht daran wachsen. So kann es nicht den Mut erleben und stolz sein, wenn es die Angst über­wun­den und die schwie­rige Situa­tion geschafft hat. Unsere Aufgabe ist es, Kinder auf ihrem Weg zum Ziel zu unter­stüt­zen und stärken.

Wir können Kindern ihre Ängste nicht ‹nehmen›.

An der Angst zu wachsen, klingt so einfach …
Das ist es nicht, es ist manch­mal eine grosse Heraus­for­de­rung. Und leider gibt es kein Rezept, jedes Kind und jede Situa­tion sind eine neue, eigen­stän­dige Konstel­la­tion. Es ist ein Auspro­bie­ren, ein Heran­tas­ten. Schritt­weise im Tempo des Kindes. Es ist ein Prozess, bei dem man ganz nahe beim Kind ist und immer wieder schaut, wie geht es ihm dabei, wie geht es mir? Das braucht Zeit. Es hilft aber, wenn man als Eltern eine klare Haltung hat.

Was meinen Sie mit einer klaren Haltung?
Sind wir als Eltern unsi­cher, wohin der Weg führen soll, wird es für Kinder schwie­rig. Hat ein Kind beispiels­weise Schul­angst und wir lassen uns davon anste­cken und verhal­ten uns zöger­lich, unter­stüt­zen wir mehr die Angst als das Kind selbst. Es ist daher hilf­reich, wenn wir ein klares Ziel haben. In diesem Fall zum Beispiel, dass das Kind (wieder) zur Schule gehen kann. Dann können wir gemein­sam schauen, welche Unter­stüt­zung es dafür braucht. Das gibt Orien­tie­rung und damit Halt. Hier ist nicht gemeint, das Kind unbe­dacht zu etwas zu zwingen. Viel­leicht bleibt es auch einmal zu Hause. Doch Kinder können nur wachsen, wenn sie sich der Angst stellen. Unter­stüt­zen wir die Vermei­dung, werden die Kinder geschwächt.

Sind wir als Eltern unsi­cher, wohin der Weg führen soll, wird es für Kinder schwie­rig.

Das Setzen dieser grund­sätz­li­chen Linien müssen die Eltern über­neh­men, ein Kind kann das noch nicht, es ist über­for­dert und möchte das Unan­ge­nehme vermei­den. Diese Linien oder eben «Haltung» klar zu defi­nie­ren, ist manch­mal sehr schwie­rig. Oft hilft es aber, sich darüber mit dem Partner oder der Part­ne­rin, mit Freun­den oder einer Fach­per­son auszu­tau­schen – so trifft man auf wert­volle neue Sicht­wei­sen.

Wie kann ich denn nun tatsäch­lich helfen, und ist das Vorge­hen bei allen Ängsten ähnlich?
Ich würde sagen, ja. Es geht immer darum, die Gefühle des Kindes ernst zu nehmen und dabei zu unter­stüt­zen, diesen Gefüh­len zu begeg­nen. Nicht, um sie loszu­wer­den, sondern um zu erfah­ren, wie man damit umgehen kann. Denn letzt­lich ist die Bewäl­ti­gung von Angst Kopf­sa­che. Kinder sollen lernen: Wenn ich es übe, kann ich es. Dahin führen wir Eltern sie in kleinen Schrit­ten. Lernen sie beispiels­weise alleine einzu­kau­fen, warten wir viel­leicht zunächst neben der Kasse und schauen zu, wie das Kind zahlt. Beim nächs­ten Mal warten wir draus­sen usw. Dabei muss ich für mein Kind bei allen Zwischen­schrit­ten als sichere Basis spürbar sein.

Was heisst das, «als sichere Basis spürbar»?
Als Eltern müssen wir demons­trie­ren können: Die Angst ist normal, aber man kann damit umgehen und wenn man es geschafft hat, fühlt es sich gut an. So sind wir eine Stütze. Werden wir selbst emotio­nal, wird es für das Kind schwie­rig. Doch ganz unbe­rührt zu bleiben, ist auch nicht immer einfach. Erin­nert die Angst uns gar an eigene Erfah­run­gen, beispiels­weise die Schul­angst vom Kind an persön­li­che Erleb­nisse mit Mobbing, dann lohnt es sich, diese eigenen Ängste zu reflek­tie­ren und gege­be­nen­falls Hilfe aufzu­su­chen.

Warum bringt es nichts, Dinge zu sagen wie «Du musst keine Angst haben» oder «Du schaffst das!»?
«Du musst keine Angst haben» bringt tatsäch­lich nichts. Für das Kind heisst das nämlich: Ich kämpfe nun zwar mit diesem Gefühl, aber es ist falsch, dass ich das tue. Das macht die Angst nicht weg. Schlimms­ten­falls wird sie stärker oder das Kind beginnt sich zusätz­lich dafür zu schämen. Ein «Du schaffst das!» wirkt zwar auf den ersten Blick stär­kend. Doch was löst es aus, wenn das Kind es doch nicht schafft? Aller­dings sind diese gutge­mein­ten Sätze schnell gesagt – mir rutschen sie ja manch­mal auch heraus.

Was hilft Kindern mehr in solchen Fällen?
Im ersten Fall könnten Eltern beispiels­weise erzäh­len, dass sie als Kind auch Angst hatten oder gar heute noch haben. Natür­lich sollen sie sich damit nicht gemein­sam mit dem Kind in die Angst rein­ge­ben. Aber sie können Verständ­nis zeigen, einräu­men, dass es etwas Schwie­ri­ges ist und aufzei­gen, wie sie selber damit umgehen.
«Du schaffst das!» sagt man oft bei Anfor­de­run­gen wie Prüfun­gen, Vorträ­gen, das erste Mal Dinge tun. Da hilft es mehr, wenn man die Sache gemein­sam durch­denkt, Optio­nen aufzeigt und vermit­telt, dass auch Versa­gen oder Fehl­schläge zum Leben gehören. Beispiels­weise bei einer Prüfung: «Schau, wenn du es nicht schaffst, dann versuchst du es das nächste Mal wieder. Viel­leicht wissen wir dann sogar, wie du dich noch besser vorbe­rei­ten kannst.»

Ein ‹Du schaffst das!› wirkt nur auf den ersten Blick stär­kend.

Warum sollten wir Kinder nicht ins kalte Wasser werfen?
Weil es Hilf­lo­sig­keit auslöst. Wir Erwach­se­nen neigen manch­mal zu diesem Schritt, wenn wir uns nicht mehr in die Gefühle vom Kind hinein­ver­set­zen können, da sie bei uns selbst weit zurück­lie­gen. Manch­mal laufen wir auch Gefahr zu meinen, ein Kind mache extra ein Theater, um uns heraus­zu­for­dern. In gewis­sen Fällen mag ein kleines «Schüpfli» viel­leicht genau das Rich­tige sein, weil ein Kind den nötigen Schritt sonst nicht wagen würde. Beispiels­weise wenn es das Velo­fah­ren übt und wir im rich­ti­gen Moment unan­ge­kün­digt loslas­sen. Doch beim Ins-kalte-Wasser-werfen ist das Risiko stets da, dass der Schritt miss­lingt oder schlimms­ten­falls eine trau­ma­ti­sche Erfah­rung wird. Das Kind lernt so, dass es sich nicht auf die Eltern verlas­sen kann, und das tut wiederum der Eltern-Kind-Bezie­hung nicht gut.

Das Gefühl von Vertrauen und Kontrolle ist aber entschei­dend rund um Ängste. Deshalb ist es besser, man bespricht vorher gemein­sam, welche Schritte bevor­ste­hen und das Kind kann anschlies­send entschei­den, in welchem Tempo es diese gehen möchte. Denn Kinder wollen ja! Sie wollen selbst­stän­dig sein und gross werden. Manche brau­chen bei gewis­sen Dingen einfach mehr Zeit und Halt als andere.

Yvonne Gahler Mehta

Yvonne Gahler Mehta ist angehende Psychologin und Elternbildnerin in der Geschäftsstelle Elternbildung vom Amt für Jugend und Berufsberatung (AJB) des Kantons Zürich. Sie ist Mutter von zwei Kindern.