Stress bei Kindern und Jugendlichen

«Was zählt, ist ehrliches Interesse der Eltern»

Die Pro Juven­tute Stress-Studie zeich­net ein umfas­sen­des Bild von den Ursa­chen und Auswir­kun­gen von Stress bei Kindern und Jugend­li­chen in der Schweiz. Rund ein Drittel von ihnen fühlt sich stark davon betrof­fen. Wie können Eltern dem entge­gen­wir­ken und Unter­stüt­zung bieten? Ein Gespräch mit Jasmin Gygi, promo­vierte Psycho­lo­gin und Erzie­hungs­be­ra­te­rin am kjz Meilen.

Frau Gygi, ganz allge­mein gefragt: Was sollten Eltern machen, wenn ihre Kinder unter Stress leiden?
Zuerst müssen Eltern über­haupt erken­nen, dass ihre Kinder von Stress geplagt sind. Das ist nicht immer einfach. Denn jedes Kind nimmt Stress anders wahr und reagiert anders darauf. Anzei­chen können psycho­so­ma­ti­sche Symptome wie Bauch­schmer­zen, Kopfweh oder Appe­tit­lo­sig­keit sein. Manche Kinder ziehen sich aus dem sozia­len Leben zurück, wirken distan­ziert und unnah­bar, andere Kinder zeigen eine Verän­de­rung in den schu­li­schen Leis­tun­gen.

Und was ist zu tun, wenn solche Anzei­chen gegeben sind?
Es ist hilf­reich, wenn Eltern die Ursache und den Charak­ter des Stres­ses kennen. Ist der Stress schu­lisch bedingt, fami­liär oder kommt er von woan­ders her? Ist er chro­nisch oder akut, zum Beispiel weil eine Prüfung ansteht? Und schliess­lich sollten die Eltern das Gespräch mit den Kindern suchen, um ihre Bedürf­nisse heraus­zu­fin­den. Braucht es eine Lern­stra­te­gie, ist der Austausch mit der Lehr­per­son ange­zeigt oder wäre ein Hobby als Ausgleich zur Schule hilf­reich?

Wir leben in einer Gesell­schaft, die mit immer mehr Ansprü­chen umgehen muss.
Ja genau. Aber die Ansprü­che kommen nicht nur von aussen an uns heran. Manch­mal stres­sen wir uns mit den Ansprü­chen an uns selbst. Das ist bei Kindern nicht anders. Auch ihre Ansprü­che können zum Problem werden und sie über­for­dern. Dessen sollten sich die Eltern bewusst sein. Und wie so oft ist auch hier die Vorbild­funk­tion der Eltern wichtig: Wie gehen sie selbst mit eigenen Ansprü­chen und Stress um?

Kern­aus­sage der Pro Juven­tute Stress-Studie
Sehr gestresste Kinder und Jugend­li­che erleben häufi­ger eine schlechte Bezie­hung zu ihren Eltern als weniger gestresste Kinder und Jugend­li­che.

Wie schaf­fen Eltern ein gutes Verhält­nis zu ihren Kindern?
Eine gute Bindung zum Kind zu schaf­fen, beginnt bei der Geburt. Je kleiner die Kinder sind, desto wich­ti­ger ist es, ihre Bedürf­nisse zu erken­nen und fein­füh­lig darauf zu reagie­ren. Bei älteren Kindern spielt das emotio­nale Verständ­nis der Eltern und ihr Inter­esse an den Kindern eine wich­tige Rolle. All dies schafft Vertrauen – die unab­ding­bare Basis einer guten Bezie­hung zwischen Kindern und ihren Eltern.

Kern­aus­sage der Pro Juven­tute Stress-Studie
Weniger gestresste Kinder und Jugend­li­che stufen das elter­li­che Inter­esse an ihnen und ihre Mitbe­stim­mung zuhause höher ein.

Wie können Eltern besser auf ihre Kinder einge­hen?
Sie sollten auf neugie­rige, aber nicht kontrol­lie­rende Art fragen. Was zählt, ist ehrli­ches Inter­esse. Eltern können zum Beispiel vor dem Einschla­fen mit ihren Kindern den Tag revue­pas­sie­ren lassen. So erfah­ren sie von den schönen und weniger schönen Erleb­nis­sen. Oder die Eltern können sich etwas erklä­ren lassen, zum Beispiel ein Spiel auf dem Tablet. Im umge­kehr­ten Fall ist es wichtig, dass Eltern bei Fragen ihrer Kinder nicht eine schnelle Antwort parat haben, sondern nach­fra­gen. So erhal­ten sie ein genaue­res Bild von den Schwie­rig­kei­ten und können pass­ge­nauer helfen. Denn manch­mal suchen Kinder bei ihren Eltern gar keine Lösung für ihr Problem, sondern wollen sich einfach nur mittei­len oder wünschen Verständ­nis für ihre Gefühle.

Die Studie stellt die Mitwir­kung der Kinder inner­halb der Familie in Bezug zum Empfin­den von Stress. Was gilt es bei der Mitbe­stim­mung zu beach­ten?
Kinder sollten alters­ge­recht mitbe­stim­men können. Bei einem drei­jäh­ri­gen Kind geht es viel­leicht um die Farbe des Pull­overs, die es wählen kann, während bei Jugend­li­chen der Dialog auf Augen­höhe eine Rolle spielt, zum Beispiel das Aushan­deln von Regeln und Bedin­gun­gen rund um den Ausgang. Die Kinder und Jugend­li­chen erleben so Selbst­wirk­sam­keit und können mitge­stal­ten, was ihren Selbst­wert stärkt.

Kern­aus­sage der Pro Juven­tute Stress-Studie
Kinder und Jugend­li­che, die mehr Zeit mit ihrem Freun­des­kreis, mit Hobbys oder in Verei­nen verbrin­gen, leiden weniger unter Stress.

Wie sieht eine im Stress-Kontext sinn­volle Frei­zeit­ge­stal­tung bei Kindern aus?
Die Akti­vi­tä­ten sollten einen Ausgleich schaf­fen zum Alltag und die Indi­vi­dua­li­tät der Kinder berück­sich­ti­gen. Das eine Kind bewegt sich gern, das andere macht lieber ruhige Akti­vi­tä­ten wie Lesen oder Zeich­nen, für ein drittes ist der Kontakt zum Freun­des­kreis wichtig. Nicht zu verges­sen ist die Bedeu­tung von unver­plan­ter Zeit – Zeit, während der Kinder frei spielen können und sich auch mal lang­wei­len dürfen.

Wie sollen Eltern die Frei­zeit­ge­stal­tung ihrer Kinder beein­flus­sen?
Insofern, dass sie die Kinder bei der Suche unter­stüt­zen und ihnen Vorschläge machen. Wichtig dabei ist, dass Eltern ihren Kindern nicht vorweg­neh­men, was ihnen gefal­len könnte, sondern dass sie ihnen die Frei­heit geben, Sachen auszu­pro­bie­ren und Erfah­run­gen zu sammeln.

Kern­aus­sage der Studie
Kinder und Jugend­li­che, die viel Zeit mit elek­tro­ni­schen Medien verbrin­gen oder sich lang­wei­len, sind gestress­ter.

Was sollten Eltern beach­ten beim Umgang ihrer Kinder mit elek­tro­ni­schen Geräten?
Rele­vant ist das Verhält­nis von Offline- und Online-Zeit. Geht das Kind noch nach draus­sen oder sitzt es drinnen perma­nent vor einem Gerät? Auch der Verwen­dungs­zweck muss beach­tet werden. Nutzt das Kind das Handy, um zu spielen, um sich mit dem Freun­des­kreis auszu­tau­schen oder um Haus­auf­ga­ben zu machen? Eltern sollten zudem «nega­tive» Anzei­chen erken­nen – zum Beispiel unru­hi­ges, zappe­li­ges und abschwei­fen­des Verhal­ten. Anstatt die Anzahl Online-Stunden will­kür­lich zu bestim­men, sollten Eltern besser auf solche Zeichen achten und ihre Kinder im Umgang mit Medien beglei­ten. Das heisst konkret: Inter­esse zeigen und gemein­sam Deals aushan­deln.

Jasmin Gygi, Psychologin und Erziehungsberaterin im kjz Meilen

Jasmin Gygi

Jasmin Gygi ist Psychologin und hat zunächst als Eltern- und Erwachsenenbildnerin bei der Geschäftsstelle Elternbildung des Amtes für Jugend und Berufsberatung gearbeitet. Nun ist sie im kjz Meilen als Erziehungsberaterin tätig und berät dort Eltern zu Erziehungsthemen und Fragen rund um den Familienalltag.