Adoptiert sein – Kinder erzählen

Meist sage ich gleich zu Beginn: «Nein, ich kann kein Wort Vietnamesisch, ich bin adoptiert.»

Nun sind wir eine Familie – für Adoptiveltern und ihre Kinder birgt der Weg dahin einige Herausforderungen. In dieser Serie erzählen Elternpaare und ein Adoptivkind von beglückenden Gefühlen, aber auch von Belastungen und grossen Fragen, die sich bei Adoptionen oft unweigerlich stellen.


Mai Linh Rigendinger (*1996) wurde mit wenigen Monaten aus Vietnam adoptiert. Sie ist beiden Eltern dankbar, haben sie diesen Schritt für sie gemacht. Wie sie mit ihrer Adoption als Kind und Jugendliche umgegangen ist, erzählt sie im Interview.

Frau Rigendinger, was haben Sie für ein Verhältnis zu Ihrer Adoption?
Mai Linh Rigendinger:
Ein sehr positives, ich hatte nie ein Problem damit. Meist sage ich heute auch gleich zu Beginn: «Nein, ich kann kein Wort vietnamesisch, ich bin adoptiert.» Ich bin allerdings froh, war ich dabei noch so jung. Als mich meine Eltern in einem Waisenhaus in Vietnam abholten, war ich vier Monate alt. Je älter ein Kind ist, desto mehr Lebenserfahrungen bringt es wohl mit, die sicher nicht immer einfach sind. Ich hingegen mag mich an kaum Vorerfahrungen erinnern und finde meinen Weg sehr schön. Meine Eltern sorgten sich zwar um mich, weil sie mich unterernährt vorfanden, mit Hautmilben und einer flachen Stelle am Hinterkopf, da sie mich im Waisenhaus zu selten gedreht hatten in meinem Bettchen. Aber das zog zum Glück alles keine langfristigen Folgen nach sich und mein Kopf ist schon lange wieder rund (lacht).

Wissen Sie viel über Ihre Herkunft?
Ich weiss, dass ich in einem Spital geboren worden bin. Da hat man mir meine Geschichte aufgeschrieben. Meine Mutter sei sehr jung gewesen, als ich zur Welt kam, und habe bereits vier Kinder gehabt. Die Familie habe in Armut gelebt, deshalb hätten mich meine leiblichen Eltern weggeben wollen, damit ich es besser habe. Ich bin froh, dass ich das weiss. Und ich empfinde grosse Dankbarkeit, dass ich nicht irgendwo gefunden worden bin. Das Gefühl, ausgesetzt worden zu sein, muss schlimm sein. Das spürt man ja auch als Baby und kann später quälende Fragen auslösen. Wieso wollten die mich nicht, was wäre passiert, wenn die mich nicht gefunden hätten?

Hilft Ihnen dieses Wissen beim Umgang mit dem Thema?
Ja. Ich denke, diese Orientierungspunkte haben viel dazu beigetragen, dass ich so gut mit meiner Adoption umgehen kann. Klar habe ich mein Wissen nicht aus erster Hand, ich kenne die wahre Sicht meiner leiblichen Eltern nicht. Aber ich bin ihnen dankbar, was sie für mich getan haben. Indem sie mich weggaben, konnte ich unter einem Dach aufwachsen und eine gute Ausbildung machen. Ich habe nun ein Leben. 

Ich bin meinen leiblichen Eltern dankbar, was sie für mich getan haben. Ich habe nun ein Leben.

Wann haben Sie von Ihrer Adoption erfahren?
Meine Eltern gingen in meinen Augen sehr schön mit meiner Adoption um. Als ich meine Mutter als kleines Kind fragte, warum ich dunkle Haare, dunkle Haut und dunkle Augen hätte und sie nicht, sagte sie von Anfang an: «Du bist nicht aus meinem Bauch, aber du bist trotzdem unser Kind.» Diesen einen Moment im Sinne von «Wir müssen dir etwas sagen» gab es daher gar nie und ich hatte auch nie zu hadern damit, im Gegenteil. Als mir meine Eltern erklärten, dass ich in einem armen Land geboren worden sei, in dem man mir nicht genug zu essen hätte geben können, dachte ich, wow, ich habe richtig coole Eltern, die mich gesucht und gefunden haben und nun auf mich achtgeben. Als Kind fand ich mich dadurch richtig speziell und ich stellte mich so am ersten Schultag sogar der ganzen Klasse vor, voller Stolz. 

Wie war es für Sie, als Sie in die Pubertät kamen?
Als ich in die Sekundarschule kam, wurde es mir plötzlich unangenehm, darüber zu reden. Ich merkte, dass das Thema sofort viele Fragen auslöste. So wussten nur meine engsten Freunde davon. Gemobbt oder ausgeschlossen wurde ich deswegen allerdings nie. Klar hörte ich ab und zu einen rassistischen Spruch, so wie manche halt über vieles Sprüche reissen. Auf die Adoption bezogen waren sie aber nie. Diese fehlenden negativen Erfahrungen hatten wohl ebenfalls einen Einfluss darauf, dass ich so gut damit umgehen kann.

Diesen einen Moment im Sinne von Wir müssen dir etwas sagen gab es nie.

Wie war die Beziehung zu Ihren Eltern in der Pubertät?
Die meiste Zeit meiner Jugend verbrachte ich bei meiner Mutter, da sich meine Eltern trennten, als ich etwa vier Jahre alt war. Ich pubertierte stark und sie bekam entsprechend am meisten ab. In meinen hochpubertären Zeiten musste sie sich zwischendurch schon harte Sachen anhören. Rückblickend denke ich aber, dass es meist eine jugendliche Reaktion war, wenn ich mich verletzt fühlte. Das ist wohl einfach typisch für dieses Alter.

Die Situation hat sich vermutlich wieder beruhigt, wie ging das?
Meine Mutter zwang mich damals zu Gesprächen mit einem Therapeuten. Zuerst ging ich nur äusserst widerwillig hin, irgendwann merkte ich aber, dass es mir gut tat. So kehrte mit der Zeit mehr und mehr Beruhigung ein. Noch entscheidender war aber wohl der Moment, als ich plötzlich wusste, wo ich im Leben hinwollte: Nämlich, dass ich den Vorkurs machen und unbedingt Lehrerin werden wollte. Seither haben wir es wieder sehr gut miteinander. Mit meinem Vater habe ich lustigerweise nie pubertiert. Ihn habe ich seltener gesehen, vermutlich wollte ich es deshalb in dieser Zeit schön mit ihm haben. Ich kann mir vorstellen, dass es meine Mutter damals schon kränkte, wie ich meine ganze Pubertät mit ihr auslebte. 

Möchten Sie einmal in Ihr Herkunftsland reisen?
Die Frage wird mir häufig gestellt und sie macht mich immer extrem zwiegespalten. Wenn ich einmal nach Vietnam gehe, dann möchte ich sicher für eine längere Zeit gehen und ja, vielleicht würde ich mich dann auf die Suche nach meinen leiblichen Eltern machen. Zu sehen, wo ich herkomme, wäre sicher spannend, oder auch einmal jemanden kennenzulernen, der mir ähnlich sieht, dieses Gefühl kenne ich gar nicht. Gleichzeitig kann ich mir das alles aber auch nur schwer vorstellen. Leben meine Eltern noch? Wollen sie mich überhaupt sehen? Das weiss ich ja alles nicht. Was würde es auslösen, ihre Armut zu sehen, was, wenn ich keinen Bezug zu ihnen fände? Für mich sind ja meine Eltern meine richtigen Eltern – ich wüsste daher nicht, wie ich mit dieser Begegnung umgehen würde und habe wirklich sehr grossen Respekt davor. Manchmal frage ich mich schon, ob sie wohl an mich denken an meinem Geburtstag oder ob sie vielleicht noch ein Foto von mir vom Spital haben. Doch diese Fragen belasten mich nicht im Alltag. Was ich abschliessend auf die Frage antworten soll, weiss ich nicht. Es ist beides.

Wüssten Sie denn, was Sie Ihre Eltern fragen würden?
Vielleicht würde ich sie fragen, ob sie manchmal an mich denken. Oder wie es ihnen geht und ob es nach mir noch weitere Kinder gab. Vielleicht aber auch, wie ihr Leben aussieht und ob sie genug zu essen haben. Im Moment wären es eher oberflächliche Fragen, denn ich denke, die Antworten könnten sehr bedrückend sein. Da hätte ich so ein schlechtes Gewissen und würde dann permanent zwischen zwei Welten hängen. Das stelle ich mir sehr schwierig vor, weshalb ich das Kapitel für den Moment wohl lieber geschlossen lassen möchte.

Sehen Sie Ihre Adoptiveltern als Ihre «echten» Eltern?
Das finde ich immer eine absurde Frage, ähnlich wie die Frage, ob ich ihnen Mami oder Papi sage. Ich kenne nichts anderes, so ist es für mich normal.

Jemanden kennenzulernen, der mir ähnlich sieht, wäre sicher spannend. Dieses Gefühl kenne ich nicht.

Adoptiveltern haben den starken Wunsch, alles richtig zu machen. Was würden Sie sagen, wie geht «richtig machen»?
Schwierige Frage, ich habe ja keinen Vergleich. Allgemein finde ich Transparenz wichtig, dass man Kindern ihre Geschichte also von klein auf offenlegt. Beispielsweise mit einem Fotoalbum vom Land, zu dem sie immer Zugang haben. Auch dass man immer offen darüber redet und es damit zu etwas ganz Normalem macht, finde ich wichtig. Denn ich habe das Gefühl, erst später von seiner Herkunft zu erfahren, ist etwas ganz Schlimmes.

Hätten Sie sich etwas anders gewünscht?
Meine Eltern wollten immer das Beste für mich, das spürte ich deutlich. Zeitweise empfand ich das aber auch als grossen Druck. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass es fast wichtiger war, nur ja von allem das Beste für mich zu wollen, als tatsächlich mich und meine Bedürfnisse wahrzunehmen. Vor allem rund um die Berufswahl war das recht belastend. Ich verstehe ja die Angst von Eltern, dass ein Kind den falschen Weg einschlagen könnte, egal ob adoptiert oder nicht. In meinem Fall hatte ich aber manchmal den Eindruck, die Angst war umso ausgeprägter, eben weil ich adoptiert bin. Heute bin ich ihnen schon dankbar dafür – der Druck war aber zwischendurch gross. «Gut» kann doch manchmal auch einfach gut genug sein, auch bei Adoptiveltern.