Adoptiert sein – Kinder erzählen

Meist sage ich gleich zu Beginn: «Nein, ich kann kein Wort Vietnamesisch, ich bin adoptiert.»

Nun sind wir eine Familie – für Adop­tiv­el­tern und ihre Kinder ist der Weg dahin selten nur einfach. In dieser Serie erzäh­len zwei Eltern­paare vom beglü­cken­den Gefühl, aber auch von Belas­tun­gen und grossen Fragen, die sich bei Adop­tio­nen oft unwei­ger­lich stellen.


Mai Linh Rigen­d­in­ger wurde mit vier Monaten aus Vietnam adop­tiert. Sie ist beiden Eltern­paa­ren dankbar, haben sie diesen Schritt für sie gemacht. Wie sie mit ihrer Adop­tion als Kind und Jugend­li­che umge­gan­gen ist, erzählt sie im Inter­view.

Mai Linh Rigen­d­in­ger, was haben Sie für ein Verhält­nis zu Ihrer Adop­tion?
Ein sehr posi­ti­ves. Meist sage ich heute auch gleich zu Beginn: «Nein, ich spreche kein Wort Viet­na­me­sisch. Ich bin adop­tiert.» Ich bin aller­dings froh, war ich damals erst vier Monate alt. Je älter ein Kind bei der Adop­tion ist, desto mehr Lebens­er­fah­rung bringt es mit. Diese ist sicher nicht immer einfach. Ich hinge­gen mag mich an keine Vorer­fah­rung erin­nern und finde meinen Weg sehr schön. Als mich meine Eltern in Vietnam in einem Waisen­haus abhol­ten, machten sie sich zwar grosse Sorgen um mich. Ich war unter­ernährt, hatte Haut­mil­ben und eine flache Stelle am Hinter­kopf. In meinem Bett­chen wurde ich zu selten gedreht. Aber das zog zum Glück alles keine lang­fris­ti­gen Folgen nach sich und mein Kopf ist schon lange wieder rund (lacht).

Wissen Sie viel über Ihre Herkunft?
Ich weiss, dass ich in einem Spital zur Welt gekom­men bin. Da schrie­ben sie meine Geschichte für mich auf: Meine Mutter sei noch sehr jung gewesen und habe bereits vier Kinder gehabt. Die Familie habe in Armut gelebt. Deshalb hätten mich meine leib­li­chen Eltern wegge­ben wollen. Damit ich es besser habe. Ich bin froh, dass ich das weiss. Und ich empfinde grosse Dank­bar­keit, dass ich nicht irgendwo gefun­den wurde. Das Gefühl, ausge­setzt worden zu sein, muss schlimm sein. Das spürt man ja auch als Baby. Später sind die Fragen sicher quälend: Wieso wollten die mich nicht? Was wäre passiert, wenn mich niemand gefun­den hätte?

Inwie­fern hilft Ihnen das Wissen um Ihre Herkunft?
Ich denke, diese Orien­tie­rungs­punkte haben viel dazu beigetra­gen, dass ich so gut mit meiner Adop­tion umgehen kann. Klar habe ich mein Wissen nicht aus erster Hand, ich kenne die Sicht meiner leib­li­chen Eltern nicht. Aber ich bin ihnen dankbar, was sie für mich getan haben. Indem sie mich wegga­ben, konnte ich unter einem Dach aufwach­sen und eine gute Ausbil­dung machen. Ich habe nun ein Leben. 

Einmal jeman­den kennen­zu­ler­nen, der mir ähnlich sieht, fände ich schön. Dieses Gefühl kenne ich gar nicht.

Wann haben Sie von Ihrer Adop­tion erfah­ren?
Meine Eltern gingen in meinen Augen sehr schön mit meiner Adop­tion um. Als ich meine Mutter als Kind fragte, warum ich dunkle Haare, Haut und Augen hätte, und sie nicht, sagte sie von Anfang an: «Du bist nicht aus meinem Bauch, aber du bist trotz­dem unser Kind.» Diesen einen Moment im Sinne von «Wir müssen dir etwas sagen» gab es daher gar nie. Ich haderte auch nie mit meiner Geschichte, im Gegen­teil. Meine Eltern erklär­ten mir, dass ich in einem armen Land geboren worden sei, in dem man mir nicht genug zu essen hätte geben können. Ich dachte: Wow, ich habe richtig coole Eltern, die mich gesucht und gefun­den haben und nun auf mich acht­ge­ben. Als Kind fühlte ich mich dadurch richtig spezi­ell. Am ersten Schul­tag stellte ich mich so der ganzen Klasse vor, voller Stolz. 

Wie war es für Sie, als Sie in die Puber­tät kamen?
Als ich in die Sekun­dar­schule kam, wurde es mir plötz­lich unan­ge­nehm, über meine Adop­tion zu reden. Ich merkte, dass das Thema viele Fragen auslöste. So wussten nur meine engsten Freunde davon. Gemobbt oder ausge­schlos­sen wurde ich aller­dings nie. Klar hörte ich ab und zu einen rassis­ti­schen Spruch, so wie manche halt über vieles dumme Sprüche reissen. Sie waren aber nie auf meine Adop­tion bezogen. Dass ich keine solchen nega­ti­ven Erfah­run­gen gemacht habe, hat wahr­schein­lich eben­falls einen Einfluss darauf, dass ich so gut damit umgehen kann.

Wie war die Bezie­hung zu Ihren Eltern in der Puber­tät?
Die meiste Zeit meiner Jugend verbrachte ich bei meiner Mutter, da sich meine Eltern trenn­ten, als ich etwa vier Jahre alt war. Ich puber­tierte stark und sie bekam entspre­chend am meisten ab. In meinen hoch­pu­ber­tä­ren Zeiten musste sie sich zwischen­durch schon harte Sachen anhören. Rück­bli­ckend denke ich aber, dass es meist eine jugend­li­che Reak­tion war, wenn ich mich verletzt fühlte. Das ist wohl einfach typisch für dieses Alter.

Wie hat sich die Situa­tion wieder beru­higt?
Meine Mutter zwang mich damals zu Gesprä­chen mit einem Thera­peu­ten. Zuerst ging ich nur äusserst wider­wil­lig hin. Irgend­wann merkte ich aber, dass es mir gut tat. So kehrte mit der Zeit mehr und mehr Beru­hi­gung ein. Noch entschei­den­der war aber wohl der Moment, als ich plötz­lich wusste, wo ich im Leben hinwollte: Nämlich, dass ich den Vorkurs machen und unbe­dingt Lehre­rin werden wollte. Seither haben wir es wieder sehr gut mitein­an­der. Mit meinem Vater habe ich lusti­ger­weise nie puber­tiert. Ihn habe ich selte­ner gesehen, vermut­lich wollte ich es deshalb in dieser Zeit schön mit ihm haben. Ich kann mir vorstel­len, dass es meine Mutter damals schon kränkte, wie ich meine ganze Puber­tät mit ihr auslebte. 

Möchten Sie einmal in Ihr Herkunfts­land reisen?
Das werde ich häufig gefragt und die Frage macht mich immer extrem zwie­ge­spal­ten. Sollte ich einmal nach Vietnam gehen, dann möchte ich sicher für eine längere Zeit hinrei­sen. Und ja, viel­leicht würde ich mich dann auf die Suche nach meinen leib­li­chen Eltern machen. Es wäre sicher span­nend, zu sehen, wo ich herkomme. Auch einmal jeman­den kennen­zu­ler­nen, der mir ähnlich sieht, fände ich schön. Dieses Gefühl kenne ich gar nicht. Gleich­zei­tig wüsste ich nicht, wie ich mit der Begeg­nung umgehen würde. Ich habe grossen Respekt davor. Leben meine leib­li­chen Eltern noch? Wollen sie mich über­haupt sehen? Was würde es bei mir auslö­sen, ihre Armut zu sehen? Was, wenn ich keinen Bezug zu ihnen fände? Manch­mal frage ich mich schon, ob sie an mich denken an meinem Geburts­tag. Oder ob sie viel­leicht noch ein Foto von mir aus dem Spital haben. Doch diese Fragen belas­ten mich nicht im Alltag. Was ich abschlies­send auf die Frage antwor­ten soll, weiss ich nicht. Es ist beides.

Wüssten Sie denn, was Sie Ihre leib­li­chen Eltern fragen würden?
Viel­leicht würde ich sie fragen, ob sie manch­mal an mich denken. Oder wie es ihnen geht und ob es nach mir noch weitere Kinder gab. Viel­leicht aber auch, wie ihr Leben aussieht und ob sie genug zu essen haben. Im Moment wären es eher ober­fläch­li­che Fragen. Ich denke, die Antwor­ten könnten sehr bedrü­ckend sein. Dann hätte ich so ein schlech­tes Gewis­sen und würde mich perma­nent zwischen zwei Welten fühlen. Das stelle ich mir sehr schwie­rig vor. Daher möchte ich das Kapitel für den Moment wohl lieber nicht aufschla­gen.

Es als Eltern ‹gut genug› zu machen, reicht doch manch­mal völlig aus. Auch bei Adop­tiv­el­tern.

Sehen Sie Ihre Adop­tiv­el­tern als Ihre rich­ti­gen Eltern?
Diese Frage finde ich immer absurd. Ähnlich wie die Frage, ob ich ihnen Mami oder Papi sage. Ich kenne nichts anderes. So ist es für mich normal.

Adop­tiv­el­tern möchten alles richtig zu machen. Was würden Sie sagen, wie geht «richtig machen»?
Schwie­rige Frage, ich habe ja keinen Vergleich. Allge­mein finde ich Trans­pa­renz wichtig. Adop­tiv­el­tern sollten in meinen Augen die Adop­ti­ons­ge­schichte von klein auf offen­le­gen. Etwa mit einem Foto­al­bum vom Herkunfts­land, das dem Kind stets zugäng­lich ist. Ich glaube, erst später von der eigenen Herkunft zu erfah­ren, ist etwas ganz Schlim­mes. Indem Adop­tiv­el­tern hinge­gen offen über die Adop­tion reden, wird sie ganz normal.

Hätten Sie sich etwas anders gewünscht?
Meine Eltern wollten immer das Beste für mich. Das habe ich eindeu­tig gespürt. Zeit­weise empfand ich das aber auch als Belas­tung. Manch­mal hatte ich das Gefühl, es war fast wich­ti­ger, nur ja von allem das Beste für mich zu wollen, als tatsäch­lich mich und meine Bedürf­nisse wahr­zu­neh­men. Vor allem rund um die Berufs­wahl war das belas­tend. Ich verstehe die elter­li­che Angst, dass ein Kind den falschen Weg einschla­gen könnte, egal ob adop­tiert oder nicht. In meinem Fall hatte ich aber manch­mal den Eindruck, die Angst meiner Eltern war umso grösser, eben weil ich adop­tiert bin. Heute bin ich ihnen schon dankbar dafür. Der Druck war aber zwischen­durch gross. Deshalb: Es als Eltern «gut genug» zu machen, reicht doch manch­mal völlig aus. Auch bei Adop­tiv­el­tern.