Einblicke

«Was mich mit der Bürokratie versöhnt» – Die Leiterin der Zentralbehörde Adoption im Gespräch

Beim Amt für Jugend und Berufs­be­ra­tung des Kantons Zürich arbei­ten zahl­rei­che Fach­leute, die sich für Ihre Anlie­gen einset­zen. Eine davon ist Heidi Stein­eg­ger. Sie ist Leite­rin der Zentral­be­hörde Adop­tion und hat in ihrem Leben schon hunderte von Adop­tio­nen und Adop­tiv­kin­der beglei­tet.


Heidi Stein­eg­ger leitet die Zentral­be­hörde Adop­tion seit 2003. Zu ihren Zustän­dig­kei­ten gehören gemein­schaft­li­che Adop­tio­nen, Stief­kinds­ad­op­tio­nen und seit wenigen Jahren auch die Herkunfts­su­che.

Heidi Stein­eg­ger, wie gross ist das Inter­esse an Adop­tion im Kanton Zürich?
Das Inter­esse ist gross. Weit über hundert Paare und Einzel­per­so­nen nehmen jähr­lich an unseren Infor­ma­ti­ons­an­läs­sen oder an Infor­ma­ti­ons­ge­sprä­chen teil, Tendenz stei­gend. Plat­zie­ren können wir im Kanton Zürich aller­dings nur wenige Kinder. Rund ein Dutzend pro Jahr, manch­mal auch deut­lich weniger.

Warum ist das so?
Das hat viele Gründe. Einer davon ist, dass die Schweiz im Jahr 2003 das Haager Adop­ti­ons­über­ein­kom­men in Kraft gesetzt hat. Diese inter­na­tio­nale Konven­tion gibt vor, wie und durch wen Adop­tio­nen abzu­wi­ckeln sind. Das Ziel ist, die Praxis zu stan­dar­di­sie­ren und Kinder­han­del damit zu verhin­dern. Für die Umset­zung braucht es unter anderem genü­gend ausge­bil­de­tes Perso­nal. Doch die Voraus­set­zun­gen können ausge­rech­net in den ärmsten Ländern nicht erfüllt werden. Als Folge können kaum je die nötigen Papiere für ein Kind zusam­men­ge­stellt werden. Zudem wurden die Anfor­de­run­gen für ange­hende Adop­tiv­el­tern erhöht.

Gibt es weitere Gründe?
Leider gibt es auch poli­ti­sche. Denn grund­sätz­lich sollte sich ein Staat selbst um seine Kinder kümmern können. So erspart er ihnen den Wechsel in ein fremdes Land zu Bezugs­per­so­nen mit fremder Sprache. Kann ein Staat das nicht alleine, schadet dies seiner inter­na­tio­na­len Repu­ta­tion. Deshalb versu­chen die Staaten, möglichst wenige Kinder für Adop­tio­nen ins Ausland zu vermit­teln. Auch kann der Bund ein Land sperren, wenn Miss­stände aufge­deckt werden, wie kürz­lich in Haiti. Das alles führt dazu, dass es welt­weit nur wenige Kinder mit allen nötigen Papie­ren und Zustim­mun­gen für eine recht­mäs­sige Plat­zie­rung in der Schweiz gibt.

Das Kind muss kompro­miss­los im Zentrum stehen.

Was müssen «gute» Adop­tiv­el­tern mitbrin­gen?
Ganz wichtig ist: Adop­tion ist eine Kindes­schutz­mass­nahme. Das muss Adop­tiv­el­tern bewusst sein. Es geht darum, einem Kind mit Unter­stüt­zungs­be­darf das Aufwach­sen in einer Ersatz­fa­mi­lie zu ermög­li­chen. Das Kind muss dabei kompro­miss­los im Zentrum stehen. Dafür brau­chen Adop­tiv­el­tern persön­li­che, zeit­li­che und finan­zi­elle Ressour­cen! Auch müssen sie mehrere Jahre Warte­zeit in Kauf nehmen und damit umgehen können, dass ihr Kind vieles neu lernen und umler­nen muss. Das braucht pädago­gi­sches Geschick, Empa­thie, Fein­füh­lig­keit und Steh­ver­mö­gen. Oft gelingt diese Aufgabe nicht ohne Unter­stüt­zung von Fach­leu­ten. Adop­tiv­el­tern müssen eine Adop­tion also wirk­lich wollen und sich voll und ganz darauf einlas­sen. Bei Paaren müssen beide moti­viert sein. Ansons­ten ist eine Adop­tion nicht das Rich­tige.

Sie und Ihr Team klären die Voraus­set­zun­gen von Adop­tiv­el­tern in der Schweiz ab. Wie gehen Sie dabei vor?
Es ist eine grosse Verant­wor­tung. Zuerst über­prü­fen wir, ob alle vom Gesetz vorge­schrie­be­nen und mess­ba­ren Krite­rien erfüllt sind. Sind sie das, wenden wir uns den «Soft Skills» künf­ti­ger Adop­tiv­el­tern zu. Ein Beispiel: Alle Adop­tiv­el­tern reichen eine schrift­li­che Biogra­fie ein. Wie gewich­ten sie darin die Inhalte? Welche Themen führen sie beson­ders aus? Worauf gehen sie nicht ein? Solche Prio­ri­sie­run­gen sind oft aufschluss­reich. Anschlies­send reden wir mit den künf­ti­gen Adop­tiv­el­tern über unsere Beob­ach­tun­gen. Dabei versu­chen wir, uns ein Bild von bestim­men Schlüs­sel­qua­li­fi­ka­tio­nen zu machen. Etwa wie ein Paar Konflikte hand­habt, Bezie­hun­gen gestal­tet, mit Tren­nun­gen umgeht, wie ihr Zusam­men­spiel mitein­an­der ist, aber auch wie viel Einfüh­lungs­ver­mö­gen und Refle­xi­ons­be­reit­schaft beide zeigen oder welche Vorstel­lun­gen sie von Erzie­hung haben.

Viele Adop­tiv­kin­der mussten in ihrem Leben viel zu früh und unter schwie­rigs­ten Umstän­den Bindungs­ab­brü­che erleben.

Wie objek­tiv schät­zen Sie eine Abklä­rung ein?
Bis zu einem gewis­sen Grad kann man die Erzie­hungs­eig­nung objek­ti­vie­ren. Es gibt Studien, die gute Eltern­schaft unter­sucht haben und auf die wir uns stützen. Diese Sach­lich­keit verlangt das Adop­ti­ons­recht von uns Gutach­tern und Gutach­te­rin­nen. Dabei müssen wir uns stets selbst reflek­tie­ren. Im Zentrum muss das Wohl des Kindes stehen – nicht unsere persön­li­chen Werte oder die Einstel­lung gegen­über Eltern­schaft.

Welche Heraus­for­de­run­gen erleben Sie bei den Adop­tiv­kin­dern, die Sie beglei­ten?
Viele Adop­tiv­kin­der mussten in ihrem Leben viel zu früh und unter schwie­rigs­ten Umstän­den Bindungs­ab­brü­che erleben. Das prägt und ist poten­zi­ell trau­ma­ti­sie­rend. Diese Vorbe­las­tung kann die ganze Adop­tiv­fa­mi­lie vor grosse Heraus­for­de­run­gen stellen. Doch auch ohne schlimme Vorbe­las­tun­gen müssen alle Adop­tiv­kin­der mehrere Welten in ihr Leben inte­grie­ren. Das kann berei­chernd sein, birgt aber auch Konflikt­po­ten­zial. Beson­ders wenn die Unter­schiede zwischen den Lebens­wel­ten gross sind. Etwa wenn ein Kind bei einer Schwei­zer Adop­tiv­fa­mi­lie mit Villa am See lebt und aus einem Land kommt, in dem Gewalt und Armut seinen Alltag geprägt haben. Diese Lebens­wel­ten zu verei­nen, verlangt viel ab von einem Menschen.

Für ein Leben ist es eine Kata­stro­phe, wenn eine Adop­tion nicht recht­mäs­sig vonstat­ten­geht.

Und auf Seiten der Adop­tiv­el­tern?
Viele Adop­tiv­el­tern plagt die Angst, dass ihr Kind seine leib­li­chen Eltern mehr lieben könnte als sie selbst. Das führt manch­mal dazu, dass sie ihre Adop­tiv­kin­der fest verwöh­nen möchten. Zudem sind die Erwar­tun­gen sehr gross. Sie werden vor ihrer Eltern­schaft auf Herz und Nieren geprüft. Geht es dem Kind nicht gut, fassen Adop­tiv­el­tern das oft als persön­li­ches Versa­gen auf. Das kann zu Stress oder einem rigiden Erzie­hungs­stil führen.

Wie gehen Sie mit dem Wider­spruch Ihrer Arbeit um, das Wohl des Kindes als höchs­tes Ziel zu haben, dabei aber so viele Vorga­ben berück­sich­ti­gen zu müssen?
Das ist tatsäch­lich ein Dilemma. Es gäbe ja unzäh­lige Kinder, die ohne Familie aufwach­sen müssen! Doch leider kenne ich auch die dunkle Seite der Adop­tion. Die Miss­brauchs­ge­schich­ten, die Kindes­weg­nah­men, die Doku­men­ten­fäl­schung. Deshalb finde ich strenge Vorga­ben richtig. Denn für ein Leben ist es eine Kata­stro­phe, wenn eine Adop­tion nicht recht­mäs­sig vonstat­ten­geht. Kinder verzei­hen das ihren Eltern und der öffent­li­chen Hand nur schwer. Wenn aber alles korrekt abläuft, bieten Adop­tio­nen eine einzig­ar­tige Chance. Kinder brau­chen eine gesi­cherte Zuge­hö­rig­keit, um sich entfal­ten zu können. Viele Adop­tiv­kin­der haben mir genau das vor Augen geführt. Für diesen Beitrag an die Kinder- und Jugend­hilfe lohnt sich unsere Arbeit! Und das versöhnt mich auch wieder mit der Büro­kra­tie.

Mit dem Gesetz der Ehe für alle dürfen ab dem 1. Juli 2022 auch homo­se­xu­elle Paare nicht­leib­li­che Kinder adop­tie­ren. Ändert das etwas für Ihre Arbeit?
Nein. Wir achten bei unseren Abklä­run­gen auf Aspekte, die das Kindes­wohl poten­zi­ell unter­stüt­zen oder gefähr­den. Diese sind unab­hän­gig von sexu­el­ler Orien­tie­rung. Alle Studien zeigen: Kinder wachsen nicht schlech­ter auf bei gleich­ge­schlecht­li­chen Paaren. Sie müssen lernen, mit einer beson­de­ren Form von Diskri­mi­nie­rung in der Gesell­schaft umzu­ge­hen. Entschei­dend ist, dass Adop­tiv­el­tern in der Lage sind, ihr Kind darauf vorzu­be­rei­ten.

Sie sind auch für die Abklä­run­gen bei Stief­kinds­ad­op­tio­nen zustän­dig. Wie unter­schei­den sich diese von gemein­schaft­li­chen Adop­tio­nen?
Inhaltlich unter­schei­den sich die Abklä­run­gen nicht von denje­ni­gen bei gemein­schaft­li­chen Adop­tio­nen. Auch hier richten wir sämt­li­che Schritte am Kindes­wohl aus. Oft sind die Fälle aber komplex. Ältere Kinder müssen dem Entscheid zustim­men, können dadurch aber in schwere Loya­li­täts­kon­flikte geraten: Verrate ich meinen leib­li­chen Vater oder meine leib­li­che Mutter, wenn ich adop­tiert werden möchte? Zudem gibt es in Stief­fa­mi­lien oft unbe­ar­bei­tete alte Bezie­hungs­ge­schich­ten, die die leib­li­chen Eltern des Kindes betref­fen.

Welche Erfah­run­gen haben Sie mit der Herkunfts­su­che gemacht?
In der Schweiz konnten wir bereits sehr viele Herkunfts­su­chen erfolg­reich beglei­ten. Mit auslän­di­schen Behör­den beginnt die Zusam­men­ar­beit erst allmäh­lich anzu­lau­fen, da wir diesen Auftrag erst seit Mitte 2018 ausfüh­ren. Wichtig ist es, unsere Klien­tin­nen und Klien­ten auf ihrem Weg zu beglei­ten. Ihre Suche wird sich dann «gut» anfüh­len, wenn sie offen für alle Ergeb­nisse sind. Also beispiels­weise auch, wenn wir eine Mutter aufge­fun­den haben, die ihr Kind nicht sehen möchte. Das erfor­dert emotio­nal sehr viel. Doch es ist wichtig, dass die Suche als Reife­pro­zess erlebt wird und daher alle mögli­chen Ausgänge denkbar und in Ordnung sind.

Heidi Steinegger ist Leiterin der Zentralbehörde Adoption im Kanton Zürich.

Heidi Stein­eg­ger

Heidi Steinegger ist Leiterin der Zentralbehörde Adoption im Kanton Zürich. Sie ist unter anderem zuständig für die Information und Beratung rund um Adoptionsabläufe, die Eignungsabklärung künftiger Adoptiveltern und die Platzierung von Adoptivkindern. Auch Abklärungen bei Stiefkindsadoptionen, Adoptionsbeistandschaften oder die Herkunftssuche gehören zu ihren Aufgaben.