kjz-Sprechstunde

«Fabio (3) schubst und schlägt sein behindertes Schwesterchen (4)»

Mütter und Väter wissen am besten, was gut ist für ihr Kind. Doch ab und zu sind sie auch bei gröss­ter Eltern­liebe froh um ein biss­chen Unter­stüt­zung. Bei allen Fragen rund um Familie und Erzie­hung weiss das Exper­ten-Team unserer kjz-Sprech­stunde Rat. Kompe­tent, anonym und unkom­pli­ziert. Was immer Sie bewegt – wir sind für Sie da!


Liebes kjz
Unsere 4-jährige Tochter Alissa hat eine Zere­bral­pa­rese, hervor­ge­ru­fen durch einen Pyruvat-Dehy­dro­ge­nase-Mangel. Zudem leidet sie unter dem extrem selte­nen Costello-Syndrom. Dennoch ist Alissa ein überaus fröh­li­ches und süsses Mädchen, das viel lacht und auch uns oft zum Lachen bringt.
Seit ein paar Wochen beob­ach­ten wir, wie ihr kleiner Bruder Fabio (3) sie immer wieder schubst und schlägt. Er lacht dabei und findet es offen­bar lustig.
Wir nehmen ihn oder Alissa immer weg vom Gesche­hen und schimp­fen mit ihm, dass er das nicht tun darf. Aber nützen tut es nichts. Alissa muss 24 Stunden über­wacht werden. Sie ist also nie mit ihm alleine. Dennoch schafft er es immer wieder, sie zu schla­gen oder zu schub­sen. Wir unter­neh­men sehr viel zusam­men als Familie und auch einzeln bekom­men die Kinder viel Aufmerk­sam­keit. Aber diese Aggres­sio­nen halten seit ein paar Wochen konstant an. Wie sollen wir vorge­hen?
Familie M.

Liebe Familie M.

Eines vorweg: Fabio zeigt ein Verhal­ten, das rund um die Welt so gut wie alle Kinder in diesem Alter zeigen. Kinder sind vom ersten Lebens­mo­ment an bestrebt, ihre Auto­no­mie zu bewei­sen, um damit unter anderem Aufmerk­sam­keit zu erlan­gen. Die Wege, die sie dabei einschla­gen (kratzen, beissen, schla­gen etc.) sind für uns Erwach­sene nicht immer konstruk­tiv.

Aber gerade im Alter von Fabio ist das nicht ausser­ge­wöhn­lich, sondern gehört zur Entwick­lung. Die Kinder lernen, dass sie mit ihrem Verhal­ten eine Reak­tion auslö­sen und so fähig sind, etwas zu bewegen und Einfluss zu nehmen. Ein wich­ti­ger Meilen­stein also und sozu­sa­gen der Antrieb, um auch Verhal­ten zu wieder­ho­len, das eine nega­tive Reak­tion nach sich zieht (schimp­fen).

Bei Kindern im Alter von Fabio kommt erschwe­rend hinzu, dass sie sich noch nicht in die Lage einer anderen Person verset­zen können. Das Grinsen Ihres Sohnes zeigt, dass er Ihre Reak­tion testen möchte und Gefal­len findet am Spiel «Ich mache das. Du reagierst so». Keines­falls möchte er aber seiner Schwes­ter ernst­haft wehtun.

Und trotz­dem können oder sollten Sie als Eltern reagie­ren:

  • Reagie­ren Sie unver­mit­telt und kommu­ni­zie­ren Sie klar («Stopp!»), damit Fabio sich orien­tie­ren kann. Zeigen Sie ihm, dass Sie sein Verhal­ten nicht in Ordnung finden, seine Gefühle jedoch ernst nehmen.
  • Versu­chen Sie, ruhig zu bleiben. Aufre­gen, schimp­fen oder lange Erklä­run­gen über­for­dern und gene­rie­ren Aufmerk­sam­keit, die das Verhal­ten verstär­ken kann. Diese soge­nannte nega­tive Aufmerk­sam­keit kann sich zu einem Teufels­kreis entwi­ckeln.

Wir wissen natür­lich nicht, wie stark Alissa wegen ihrer Behin­de­rung durch das Hauen und Schub­sen von Fabio gefähr­det ist. Dass keine vergleich­bare Gegen­re­ak­tion von ihr kommt, kann in psycho­lo­gi­scher Hinsicht aber ein «Vorteil» sein. Denn so verliert das «Spiel» zuneh­mend seinen Reiz.

Sie können Fabio wissen lassen,

  • dass Alissa sich weniger gut wehren kann und darauf ange­wie­sen ist, dass er sie nicht schlägt und schubst.
  • dass in Ihrer Familie niemand schlägt, weil es alle lieber fried­lich haben wollen und es nicht nötig ist.

Das hat weniger mit der Erkran­kung von Alissa direkt zu tun. Viel­mehr ist es lang­fris­tig hilf­reich, Stra­te­gien anzu­wen­den, die ohne physi­sche Gewalt auskom­men.

Es ist schön, dass Sie als Familie viel Zeit zusam­men verbrin­gen und dass Sie auch Fabio einzeln viel Aufmerk­sam­keit schen­ken. Dennoch erfährt er, dass seine Schwes­ter wegen ihrer Erkran­kung und der benö­tig­ten Über­wa­chung ständig (und damit mehr) Aufmerk­sam­keit bekommt. Geschwis­tern von Kindern mit einer chro­ni­schen Erkran­kung oder einer Behin­de­rung wird ein hohes Mass an Anpas­sungs­fä­hig­keit abver­langt.

Fabio hat also eine doppelte Aufgabe zu leisten: die normale, die jedes Kind durch­läuft, sowie der Umgang mit einer behin­der­ten Schwes­ter und deren besorg­ten Eltern – die auch seine sind. Ein sehr grosses Lern­feld für einen Drei­jäh­ri­gen – wo er aber viel Gutes und Wich­ti­ges fürs Leben lernt.

Wir wünschen Ihnen, dass Sie Ihre Kinder bei deren Entwick­lung weiter­hin mit Ihrer Sorg­falt und Ihrem Enga­ge­ment beglei­ten können, und alles Gute auf dem weite­ren Lebens­weg.

Nadine Lampar­ter, Claude Ramme und das kjz-Team

Haben Sie eine Frage?

Haben Sie eine Frage zur Erzie­hung, zum Zusam­men­le­ben in der aktu­el­len Situa­tion oder ganz allge­mein zum Fami­li­en­le­ben? Das kjz-Team beant­wor­tet regel­mäs­sig Fragen in der «kjz-Sprech­stunde».