Einblicke

«Isch das normal?» – Eine Mütter- und Väterberaterin hilft bei vielen Fragen

Beim Amt für Jugend und Berufs­be­ra­tung des Kantons Zürich arbei­ten zahl­rei­che Fach­leute, die sich für Ihre Anlie­gen einset­zen. Eine davon ist Vera Toma­schett, Mütter- und Väter­be­ra­te­rin im Bezirk Meilen. Die häufigste Frage in ihren Bera­tun­gen: «Isch das normal?» Nehmen Sie hier Einblick in ihre Arbeit.


Ein schmu­ckes rotes Holz­häus­chen, dahin­ter ein Garten mit Klet­ter­burg und fried­li­chem Kinder­ge­wu­sel. Hier, im Eltern Kind Zentrum Stäfa, stehen heute die Türen für Mütter und Väter mit ihren Fragen weit offen. Vera Toma­schett legt gerade die Einschrei­be­l­iste bereit und rückt ein paar Spiel­sa­chen zurecht. Bald ist es 17 Uhr und ihr zwei­stün­di­ges Bera­tungs­zeit­fens­ter beginnt. Einmal im Monat findet die Bera­tung wie heute am Abend statt, sodass auch berufs­tä­tige Eltern vorbei­kom­men können – eine Voranmel­dung braucht es nicht. «Es ist uns wichtig, dass das Angebot nieder­schwel­lig ist. So kann man auch dann kommen, wenn es gerade akut brennt», erklärt die Mütter- und Väter­be­ra­te­rin, die seit elf Jahren im Bezirk Meilen arbei­tet.

Einschrei­ben, wägen und messen

17.00 Uhr. Bereits meldet sich die erste Mutter an. Sie ist hoch­schwan­ger. Doch mit Blick auf ihren Bauch winkt sie lachend ab: «Darum geht es nicht!» Zuhause habe sie bereits einen zwei­jäh­ri­gen Jungen und der fordere sie gerade ziem­lich heraus. Die Bera­tung möchte sie aber unter vier Augen wahr­neh­men. Vera Toma­schett versteht, nickt und zieht sich mit ihr ins Bera­tungs­zim­mer einen Stock höher zurück.

Eltern sollen auch dann kommen können, wenn es akut brennt.

In der Zwischen­zeit begrüsst Reni Häseli eine nächste Mutter mit zwei Kindern. Als Assis­ten­tin der Mütter- und Väter­be­ra­te­rin empfängt und koor­di­niert sie die Fami­lien und ist für das Messen und Wägen zustän­dig: Kopf leicht fixie­ren, Knie etwas nach unten drücken, Ferse mitmes­sen – so kommt der 7,2 Kilo­gramm schwere Junge auf ganze 65 Zenti­me­ter. Die Mutter strahlt. «Messen und Wägen sind oft der Grund für den ersten Besuch bei der Mütter- und Väter­be­ra­tung», erzählt die Assis­ten­tin. Die Eltern könnten aber mit allen Anlie­gen vorbei­kom­men. Die Kinder schla­fen nicht, krie­chen viel­leicht noch nicht, wie andere in ihrem Alter, verwei­gern den Brei, wollen nicht im Auto mitfah­ren – die Themen seien viel­fäl­tig.

Eltern in ihrer Rolle stärken

Nach dem Messen geht die Mutter mit ihren ihren beiden Kindern zur Bera­tung in den oberen Stock. Vera Toma­schett ist den Kindern sicht­lich vertraut, die Familie kommt offen­bar schon seit der Flucht aus ihrem Herkunfts­land vor fünf Jahren in die Bera­tung. Heute dreht sich die Frage um die neue Baby­nah­rung für den kleinen Sohn. Die Bera­te­rin nimmt sich Zeit, fragt nach, zeigt Verständ­nis. Die Erzäh­lun­gen quit­tiert sie immer mal wieder mit einem «Super!» oder «Wunder­bar!». Ausrufe, die im heuti­gen Bera­tungs­zeit­fens­ter noch mehr­mals fallen. Darauf ange­spro­chen meint sie: «Dafür bin ich doch da, um die Eltern in ihrer Rolle zu stärken und zu unter­stüt­zen.»

Mütter- und Väter­be­ra­te­rin­nen verfü­gen alle über einen Fach­ab­schluss als Pfle­ge­fach­frau HF mit einer einschlä­gi­gen Zusatz­aus­bil­dung. Eltern seien aber oftmals nicht nur froh um das breite Fach­wis­sen. Vielen fehle gerade beim ersten Kind auch schlicht die Bestä­ti­gung in ihrem Tun inmit­ten der vielen mögli­chen Unsi­cher­hei­ten. «Beim Eltern­wer­den ist es doch genau gleich wie zu Beginn einer Ausbil­dung: Wie soll man etwas wissen, was man vorher noch nie gemacht hat?», fragt Vera Toma­schett und spricht damit einen Gedan­ken aus, der wohl viele Eltern zwischen­durch zur Verzweif­lung bringt. «Gerade die Mütter haben dies­be­züg­lich oft extrem hohe Erwar­tun­gen an sich selbst», sagt Vera Toma­schett und fügt an: «Die Enttäu­schung ist dann riesig, wenn etwas nicht klappt. Dabei machen sie doch in den aller­meis­ten Fällen intui­tiv alles genau richtig. Sie müssen es nur oft genug hören dürfen!»

«Isch das normal?»

17.40 Uhr. Die nächste Familie sitzt nach dem Messen im Bera­tungs­zim­mer. Vater, Mutter und die sieb­zehn­wö­chige Tochter Leonie. 63 Zenti­me­ter, 4,9 Kilo­gramm: Alles im grünen Bereich. Die Eltern erzäh­len von ihren Erfah­run­gen. Von Milch­stau, Impfen oder Schorf im Haar, aber auch von neuen Verhal­tens­mus­tern des Kindes. Zwischen­durch zeigen sie stolz Fotos aus dem Alltag. Und immer wieder fällt die Frage: «Isch das normal?» Vera Toma­schett bestä­tigt beru­hi­gend und man glaubt es ihr mit ihrer erfah­re­nen Art auch sofort. Ihr Rezept, um das Vertrauen der Eltern zu gewin­nen? Vera Toma­schett denkt nach. Sie versu­che, nicht zu beleh­ren, das führe nur zu Hemm­schwel­len. Aber ihre Erfah­rung helfe wohl schon auch. Sie habe schon so viele verschie­dene Mütter und Väter gesehen. Doch egal, wo sie herkä­men, ob sie sich zuvor bis ins Detail auf das Eltern­sein vorbe­rei­tet hätten oder uner­war­tet schwan­ger gewor­den seien, die Unsi­cher­hei­ten von Eltern seien überall ähnlich. Und gerade beim ersten Kind spüre sie bei allen eine grosse Verletz­lich­keit. Da müsse man behut­sam mit Empfeh­lun­gen umgehen.

Erzäh­len hilft

Aus den kleinen Fragen von Leonies Eltern werden plötz­lich Grund­satz­fra­gen. Der Alltag gestalte sich für die Mutter nicht immer einfach, vor allem, wenn sie alleine mit dem Kind sei. Wenn es weine, habe sie manch­mal den rich­ti­gen Umgang damit noch nicht gefun­den, zum Beispiel während sie dusche. Auch kämpfe sie damit, keine Zeit mehr für sich zu haben. Vera Toma­schett zeigt viel Verständ­nis. Hilft, die Gefühle einzu­ord­nen, teilt Über­le­gun­gen mit. Zum Ende fächert sie ihre riesige Mappe auf und blät­tert sich vorsorg­lich zum Flyer des Entlas­tungs­diensts durch, den das Schwei­ze­ri­sche Rote Kreuz anbie­tet. Werde die Not einmal zu gross, könne dieser eine wert­volle Unter­stüt­zung sein. Und beim Abschied ermun­tert sie: Anrufen könnten die Eltern immer. Aber die Mutter solle doch auch ab und zu vorbei­kom­men und erzäh­len, das helfe. Auch wenn man nur kurz loswer­den wolle, dass man einen «Misttag» gehabt habe. Denn so gehe es doch allen immer wieder. Und auch das sei eben ganz normal. 

Gerade beim ersten Kind spüre ich bei allen Eltern eine grosse Verletz­lich­keit.

Das passiere oft, sagt Vera Toma­schett später. Die Mutter sage, sie habe eigent­lich keine weite­ren Fragen. Aber plötz­lich kämen immer mehr. Auch die Sorgen beim Duschen oder die fehlende Zeit für sich selbst seien ein Klas­si­ker. Da sei es wichtig, gut hinzu­schauen, wie sich diese Sorgen entwi­ckel­ten. Denn die postpar­tale Depres­sion sei nach wie vor noch viel zu fest tabui­siert, obwohl sie bei rund 15 Prozent der Frauen nach der Geburt auftrete. Was doch auch verständ­lich sei, so Toma­schett: «Schliess­lich sind die Anfor­de­run­gen an Eltern einfach gross.»

«Ist das stimmig für Sie?»

18.15 Uhr. Andrin ist 17 Wochen alt, misst 61 Zenti­me­ter und wiegt 6,2 Kilo­gramm. Wie beim letzten Mal, stellen seine Eltern fest. In der Bera­tung erzäh­len sie, dass Andrin die Beikost verwei­gere und das Abpum­pen nicht immer einfach sei. Neue Fragen, neue Themen. In diesem Fall schlägt Vera Toma­schett bewährte Haus­mit­tel vor: eine Packung tief­ge­fro­rene Erbsen, die sich viel ange­neh­mer der Brust­form anpas­sen würden als regu­läre Wärme­kom­pres­sen. Oder Quark zwischen Haus­halt­pa­pier gestri­chen. Am Ende verge­wis­sert sich die Bera­te­rin jedes Mal: «Isch das stimmig für Sie?»

Einige Notizen trägt sie mit dem Einver­ständ­nis der Eltern in ein inter­nes System ein. So würden Entwick­lun­gen sicht­bar und bei Bedarf könnten auch andere Mütter- und Väter­be­ra­te­rin­nen das Vergan­gene nach­voll­zie­hen, wenn sie einmal nicht da sei.

Man kann nicht für alle die Rich­tige sein

19.00 Uhr. Das Bera­tungs­zeit­fens­ter ist zu Ende. Vera Toma­schett und Reni Häseli packen zusam­men. Müde wirken sie beide nicht, weder nach den Bera­tun­gen noch nach so vielen Jahren im Job. Wenn sie eine Familie mit einer Bera­tung unter­stüt­zen könnten, sei das ein gutes Gefühl, meinen beide. Aber ange­sichts der hohen Gebur­ten­zah­len würden sie sich schon auch fragen, warum das Angebot nicht noch viel mehr genutzt werde. «Ich war als junge Mutter aus den Bündner Bergen im Unter­land sehr einsam. Für mich war die Mütter- und Väter­be­ra­tung damals das Para­dies», meint Vera Toma­schett nach­denk­lich. Doch gerade stark belas­tete Fami­lien zu errei­chen, sei trotz aller Bemü­hun­gen nicht einfach. Dabei sei beson­ders die frühe Kind­heit doch eine so prägende Zeit.

Mit Google, Blogs, Podcasts und Co. sei das Angebot heute wohl bereits sehr gross. Ausser­dem sei man sicher nicht für alle die Rich­tige, meint Vera Toma­schett selbst­kri­tisch. Doch in ihrer Erfah­rung sei es auch oft einfach so, dass Mütter erst kurz vor der totalen Erschöp­fung um Hilfe bitten würden. Der Gedanke «Alle können es, nur ich nicht» sei so verbrei­tet, der Druck zum Teil hoch. «Und gerade auch Themen wie die Belas­tung in der Part­ner­schaft oder wenn Babys viel Schreien sind oft noch viel zu fest tabui­siert oder scham­be­haf­tet - obwohl sie doch so einschnei­dend sind.»

Der Gedanke ‹Alle können es, nur ich nicht› ist so verbrei­tet.

Wenn sie vermute, dass eines dieser Themen die Mutter oder die Eltern belas­tet, weise sie auf weiter­füh­rende Ange­bote der Mütter- und Väter­be­ra­tung hin, so Vera Toma­schett. Sie erlebe heutige Eltern oft als sehr bemüht und reflek­tiert in ihrer Rolle. Doch Eltern sein sei doch einfach für alle neu und anspruchs­voll. Bestä­ti­gung und Halt könnten dabei so hilf­reich und wohl­tu­end sein – und das sei es, was sie den Eltern neben ihrem Fach­wis­sen hier geben könnten.

Diese Worte hallen nach beim Hinaus­ge­hen. Gerade weil Eltern­schaft so anspruchs­voll ist, wünscht man allen Eltern einen so herz­li­chen Empfang in der Mütter- und Väter­be­ra­tung wie bei Vera Toma­schett und Reni Häseli. Und dass die Eltern in der Bera­tung genau das finden, was sie suchen: neben Antwor­ten auf die vielen Fragen aus dem Eltern­all­tag viel­leicht auch ein biss­chen Halt und Entlas­tung. Selbst wenn sie nur vorbei­kom­men, um von einem dieser «Mist­tage» erzäh­len zu können.